Körper
Körper.
Komm schon, es geht noch ein bisschen mehr. Nur das eine noch. Jetzt reiss dich zusammen. Du kannst das! Ja, ja, ja! Renn weiter. Nimm ab. Bau Muskeln auf, das ist gesund. Weiterarbeiten - der Tag ist noch nicht ganz vorbei. Sport trägt zu einem erfüllten, langen Leben bei. Iss nicht so viel Zucker, denn der macht süchtig und deinen Körper kaputt.
32 Jahre lang habe ich meinem Körper nicht wirklich zugehört. Ich habe nicht gelernt, auf meine Körpersignale zu achten.
Ich kann nicht schlafen - brauche Gras oder Melatonin oder Remeron dazu. Ich spürte keine Scham. Ich fand, ich sei die Grösste, weil ich kaum Angst kannte. Ich dachte, ich sei unbesiegbar und so stark, weil meine Wut ganze Menschenhorden niedermähte.
Als ich als 21 Jährige zwei Monate an einem Ort mitten in der Natur verbrachte und es jeden Tag weniger und noch weniger Essen gab - das, was es gab, war komplett verkohlt - brachte ich meinem Körper bei, den Hunger zu ignorieren.
Und so ging es auch als Mutter hervorragend. Wenn mein Sohn noch mehr Hunger hatte, gab ich ihm meinen Teil freudig ab.
Immer wieder - und auch die letzten beiden Jahre - hatte ich kaum noch Hungergefühle.
Zum Glück war irgendwo in mir noch ein lebensbejahender Teil anwesend. Denn ich begann, mich zum Essen zu zwingen. Mindestens einmal am Tag wollte ich „gesund“ essen.
Wenn ich im Alltag mit meinem Sohn müde wurde, sagte ich mir, dass dies nicht sein dürfe und ich präsent für ihn bleiben wolle.
Wenn ein riesiger Hund mich mit lautem Bellen und gefletschten Zähnen fast umrannte, stand ich - ohne jegliche Furcht - da, und streckte ihm meine Hand entgegen. Ich dachte, ich sei toll, weil ich keine Angst empfand.
Ganz langsam beginne ich mehr und mehr Signale meines Körper zu erkennen. Wo fühle ich Schmerz? Wo Verkrampfung? Was braucht mein Körper jetzt? Wie geht es meinem Körper?
Als meine Freundin mir letzte Woche abgesagt hat, was hat mein Körper da gezeigt? Als meine Mutter mir auf meine Frage nach Verbundenheit geantwortet hat, wie hat mein Körper da reagiert?
Lieber Körper, es tut mir Leid, dass ich dir bisher so wenig Beachtung geschenkt habe. Ich wünsche mir mehr Verbundenheit mit mir selbst, mit dir, Körper, mit mir, mit Menschen, die ich liebe. Wie, Körper, kann ich dich mehr integrieren? Wie kann ich mehr zu mir selbst schauen? Wie kann ich mir selbst mehr Liebe, Aufmerksamkeit und Authentizität schenken?
Mein Körper ist mein bester Freund.
Körper, ich danke dir, dass du all die Jahre für mich da warst, mir immer wieder auf's Neue versucht hast, Dinge zu zeigen. Mir mit Fussbruch, unsäglichen Kopf- und Rückenschmerzen gezeigt hast, dass ich mehr Ruhe in meinem Leben brauche.
Danke, dass ich 3 Hirnblutungen, einige Unfälle, 3 Hirnoperationen, meine Selbstmordwünsche, meine Depressionen, meine ganzen Jahre des Reisens immer wieder und wieder überstanden habe.
Danke, Körper, Leben, mir selbst, dir, dass ich noch da bin.
Danke, Körper, dass du mir unermüdlich und ungebrochen weiter Zeichen sendest, die ich mehr und mehr zu lesen lerne.
Danke, dass du da bist, Körper.